Die Zauberglaskugel

Henno, 30, die Sonnenbrille auf der Nase, ein Egoist und Unsympath vor dem Herrn spazierte nach einem misslungenen Geschäftsabschluss durch den Park. Schlecht gelaunt schoss er den Ball, der auf ihn zurollte, genau in die andere Richtung und nicht den Kindern zu. Im Vorbeigehen löste er das Ventil eines Fahrrades. Die Luft entwich ins Freie und er ging, leise pfeifend weiter, den Blick gegen die Wolken gerichtet. Als ihm im Gras eine wunderschöne rote Murmel entgegenkullerte, trat er einfach mit seinen 43er Lederlatschen drauf und versenkte sie im Erdboden. Ein kleines Mädchen kam in Schlangenlinien auf ihn zu und suchte irgendetwas auf dem Boden. Sie stieß gegen sein Bein. „Oh, hoppla, Verzeihung. Hast Du meine Murmel gesehen!“ fragte die kleine Janina mit ihren sechs Jahren ganz höflich und sah ihn dabei so lieb an. Fast hätte er lachen müssen, als er dem kleinen, als Prinzessin verkleideten Mädchen in die Augen sah.

„Nein, musst halt auf dein Klump aufpassen!“ gab er barsch zurück, mit dem Fuß über der Kugel verweilend, „und jetzt mach dich ab!“

Erschrocken wich Janina zurück, schluchzte und unter Tränen lief sie zu Nina, ihrer Mutter. „Mama, Mama, der Mann ist überhaupt nicht nett! Und meine Zauberkugel ist auch weg.“

„Komm her, meine Kleine!“ Nina, 28, alleinerziehend, warf Henno einen bösen Blick zu. „Die finden wir bestimmt wieder.“ Mit diesen Worten nahm sie ihre Tochter in die Arme und tröstete sie. Dann suchten sie die restlichen Kugeln zusammen und gingen Hand in Hand nach Hause.

Zauberkugel, so ein Schmarrn, dachte sich Henno. Dabei bemerkte er, dass sich unter seiner Sohle, die immer noch auf der Kugel stand, eine unangenehme Wärme breitmachte. Er zog schnell den schmerzenden Fuß beiseite und hüpfte auf einem Bein drei Schritte im Kreis. Dann bückte er sich nach der Kugel und puhlte sie mit einem herumliegenden Stöckchen aus dem Boden heraus. Komisch, das Mistding ist doch gar nicht heiß, dachte er, als er sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger nahm. Etwas irritiert ging er kopfschüttelnd einige Schritte in Richtung Parksee, sah auf die rote Murmel in seiner Hand, holte aus und wollte sie im Wasser versenken.

„Das wirst du schön bleiben lassen!“

Mitten in der Bewegung hielt er inne, drehte sich abrupt um, um zu sehen, wer ihm da Vorschriften machen wollte. Aber er konnte niemanden entdecken. Ja, spinn ich denn jetzt auch schon? Mit dieser Frage an sich selbst drehte er sich wieder in Wurfrichtung See, holte abermals aus und hörte wieder diese Stimme: „Du kannst mich ruhig in den See werfen, aber bedenke, es wird deine letzte Bewegung auf dieser Welt sein!“

„Wer spricht denn da, zum Donnerwetter nochmal, mit mir? Zeig dich, du Feigling!“

„Ganz ruhig, du Fiesling!“ Die Stimme klang so nah, dass man denjenigen eigentlich sehen müsste. „Schau mal in deine Hand!“

Unwillkürlich öffnete er seine Hand und sah leicht überheblich auf die rote Kugel. „Ich glaub es nicht, ich unterhalte mich mit einem Stück rotem Glas. Hoffentlich sieht das keiner, sonst kommen die Männer mit den weißen Turnschuhen.“

„Du hast zwei Möglichkeiten!“ Während er die Stimme hörte, flackerte ein Licht in der Kugel, „Du kannst mich dem kleinen Mädchen zurückgeben und dich bei ihm entschuldigen.“

„Was soll ich?“ entfuhr es ihm, „Ich glaube, es geht los! Du fliegst jetzt im hohen Bogen ins Wasser und gut ist es!“

„Na gut, dann werde ich dir kurz erläutern, was dann passiert.“ Die Kugel leuchtete heller und aggressiver als vorher. „Bevor ich deine Hand verlasse, verwandelst du dich in einen Baum und wirst erst wieder erlöst, wenn dich jemand schön findet und sich an dich schmiegt.“

„So ein Blödsinn!“ Das waren Hennos letzte Worte, als er die Kugel wegschleudern wollte.

Es machte kurz plopp, ein Rauchwölkchen stieg auf und aus Henno wurde tatsächlich ein Baum. Die Kugel war halb in der Rinde gefangen und schaute am Ende eines Astes noch heraus. Im Innern gefangen bekam Henno alles wie durch eine rote Fensterscheibe mit.

So stand er den Rest des Tages vor sich hin und konnte sich nicht regen. Er konnte es auch nicht verhindern, dass ein streunender Hund das Bein hob und die Rinde anpinkelte. Am Abend brummte dann etwas an dem Astloch, das ihm als Ohr diente. Am Rand des sichtbaren Bereiches in seinem Fenster erkannte er eine dicke Hornissenkönigin, die vermutlich ein Nest für ihr neues Volk suchte. Aber er hatte Glück, dass die Inspektion negativ ausfiel und die Brummsel wieder davonsummte.

So vergingen die Tage. Er hatte häufig Besuch von verschiedenen Insekten, Eichhörnchen, beinhebenden Hunden verschiedener Größen und verliebten Pärchen des Nachts. Er lernte Sachen zu ertragen und übte sich in Geduld. So wartete er sehnsüchtig auf seine Erlösung.

Eines Nachmittages kam Janina mit ihrer Mutter und spielte in seinem Schatten wieder mit ihren Murmeln. Da bemerkte sie den seltsam gewachsenen Baum und rief ihrer Mutter zu: „Schau mal, Mami, der Baum schaut fast so aus, wie mein Einhorn Flecky zuhause. Und er hat auch ein rotes Auge da oben am Stamm, dort wo der Ast wie ein Horn herausragt. Ach, ist der schön!“ Sie stand auf, ging auf den Baum zu und umarmte ihn.

Und es machte plopp und eine kleine Rauchwolke stieg wieder auf. Dieser Augenblick wurde natürlich aus dem Gedächtnis der Anwesenden gelöscht. Und so hing Janina an Hennos rechtem Hosenbein und schmiegte sich an ihn. Zu Tränen gerührt öffnete er seine Hand: „Hier ist deine Zaubermurmel. Ich möchte mich bei dir entschuldigen, dass ich so gemein zu dir war.“

Janina schreckte zurück, denn sie konnte sich noch an den fiesen Mann erinnern, der sie vor etwa einer Woche so angefahren hatte, völlig ungerechtfertigt. Schnell sprang sie zu ihrer Mutter.

In seiner Baumheit hatte Henno genügend Zeit, über so manches nachzudenken, was das Leben so ausmacht. Deshalb wandte er sich an die beiden. „Ich glaube, ich habe da noch was gutzumachen. Darf ich dich, Janina, zu einem Eis einladen und deine Mutter auf eine Tasse Kaffee. Ich kenne da ein schönes gemütliches Cafe.“ Fragend blickte er erst in die Augen der kleinen Lady und dann in Ninas wunderschöne braunen Augen. Sie erwiderte seinen Blick. Dann sah sie fragend zu ihrer Tochter hinunter und als die nickte, gab sie zur Antwort: „Also gut, wenn die Unterhaltung so nett bleibt, wollen wir es einmal versuchen. Was meinst du, Janina?“

„Au ja, Mami!“ Meinte sie. „Und ich möchte Erdbeer und Vanille!“

Er musste auf diese Äußerung hin laut loslachen und das gefiel Nina. So fand sie den Fiesling eigentlich ganz nett. Und als sie dann im Cafe mit der himmelblauen Wandbemalung mit den mediterranen Motiven angekommen waren und er sich um die Bestellung kümmerte, zupfte Janina ihre Mami am Ärmel und flüsterte ihr ins Ohr: „Aber seine Hose musst du ihm noch waschen, Mami, die riecht recht streng. So kannst du ihn nicht unter die Leute lassen.“

Und wie es so geht, man fand sich sympathisch und so wurde aus dem Cafebesuch ein regelmäßiges Treffen. Tochter und Mutter freuten sich jedes Mal, wenn sie ihn trafen. Bereits nach zwei Wochen lud Nina Henno zu sich nach Hause ein. Sie hatte ein kleines Abendessen vorbereitet. Als es an der Tür klingelte, huschte natürlich Janina hin, öffnete und schmiegte sich an ihn.

„Grüß dich, meine Kleine!“ Er streichelte ihr mit dem mitgebrachten Geschenk sanft übers Haar. Als Janina merkte, dass es nicht seine Hand war, die sie streichelte, griff sie nach oben und hielt das Kuscheltier fest. Sie hielt es mit gestreckten Armen vor sich und stieß einen Jubelschrei aus. Es war das sehnlichst gewünschte Einhorn, das zu ihrem passte. Sie flitzte zu ihrer Mutter: „Schau mal, Mami, was ich bekommen habe. Nun ist Flecky nicht mehr allein. Ich muss es ihm sofort zeigen.“ Und weg war sie.

„Du sollst doch die Kleine nicht so verwöhnen.“ Mit diesen strengen Worten kam sie lächelnd auf ihn zu. „Komm herein!“ Er trat über die Schwelle und hielt die linke Hand krampfhaft hinter seinem Rücken. Sie schloss die Tür und begrüßte ihn mit einem Küsschen links und rechts.

„Halt, meine liebe Nina. Ich hab natürlich auch etwas für dich.“ Und er holte seine Hand hervor und übergab ihr den Strauß roter Rosen. Mit leuchtenden Augen nahm sie ihm den Strauß ab, trat ganz nahe an ihn heran und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Da kam auch schon Janina mit ihren Einhörnern an.

Mit einem kurzen Blick auf die Rosen meinte sie nur: „Ach, sind die Blumen aber schön!“ Und an Henno gewandt sagte sie: „Vielen, vielen Dank für das Tierchen!“ Sie bedeutete ihm mit der Hand, dass er sich zu ihr herunter bücken sollte. Verwundert sah er Nina in die Augen. Die zuckte aber nur mit den Schultern, da sie nicht wusste, was ihre Tochter vorhatte. Also beugte er sich zu Janina hinunter.

„Ja, was gibt es denn?“ Fragte er ganz zärtlich.

Sie umschlang seinen Hals mit ihren Ärmchen. „Ich muss jetzt schnell ins Bett!“ Flüsterte sie ihm leise ins Ohr. „Mami hat was Feines zum Essen gemacht und will es nur mit dir bei Kerzenschein verputzten. Guten Appetit und gute Nacht!“ Dann gab sie ihm noch einen dicken Schmatz auf seine Wange, ließ ihn los und hüpfte zu ihrer Mutter. Diese beugte sich ebenfalls hinunter und wollte ihrer Tochter noch einen gute Nacht Kuss geben. Stattdessen hörte sie die leisen Worte: „Du musst nicht mehr zu mir ins Kinderzimmer kommen. Ich störe euch auch nicht mehr, versprochen. Macht euch einen schönen Abend!“ Bussi auf den Mund und schon flitzte sie in Richtung Kinderzimmer und winkte Henno im Vorbeifliegen schnell noch zu. Nina erhob sich wieder und schaute etwas verlegen zu Henno hinüber. Der lachte leise, kam auf sie zu und nahm sie einfach in den Arm. „Du hast aber eine gut erzogene Tochter, Respekt!“

„Moment, nicht dass du denkst, das sei abgesprochen.“ Nina wollte noch mehr zu ihrer Verteidigung sagen. Aber sie kam nicht mehr dazu, da ihr Mund von seinen Lippen verschlossen wurde. Sie erwiderte seine Umarmung und schloss ihre Augen. Als sie ihre Augen nach dem sinnlichen Kuss wieder öffnete, sah sie Janina neugierig grinsend um die Ecke spitzen. „Und Zähneputzen nicht vergessen, Fräulein!“

„Jahaa!“ kam es zurück und man hörte kurz darauf die Badezimmertür klappern.

Nina löste sich aus der Umarmung. „Ich stell die Blumen schnell noch in die Vase. Du kannst ja schon mal die Kerzen an- und den Wein aufmachen. Ich bin gleich bei dir.“ Und mit einem vielsagenden Blick, der irgendwie die vielbesungenen Schmetterlinge erweckte, verschwand sie in der Küche.

Die rote Zauberkugel ruhte seitdem wohlbehütet im Stall der beiden Einhörner und wurde nie wieder zum Spielen herausgenommen, da ja keiner ihre Fähigkeiten kannte.