Der verflixte Vorhang

So eine blöde Kuh! Die weiß auch nicht, was sie will! Jedes Mal kurz vor Weihnachten! Und immer eine Lappalie. Mal der falsche Baum, mal der falsche Braten. Okay, der Baum war letztes Jahr jetzt nicht der Größte, aber dafür war die Gans recht ordentlich. Hat ja schließlich bis Silvester gereicht. Aber ich kann mich auch nach zwei Stunden noch nicht so richtig beruhigen und trinke in aller Ruhe mein drittes Bier und den vierten Schnaps hinterher. Aber langsam glaube ich, ich merke die verdammte Droge doch, wie sie meine Gedanken beeinflusst. Vielleicht war der ganze Streit ja nur wieder ein Missverständnis, wie schon häufiger. Aber muss sie denn immer das letzte Wort haben. Und diese Penetranz, immer wieder in dieselbe Kerbe. Und wieder das Ganze von vorn. Da soll man nicht durchdrehen. Jetzt habe ich erstmal genügend Beruhigungstropfen intus, dass ich ihre Anfeindungen besser abkann. So, jetzt den Wirt anlocken, ich will nach Hause. „Willi, bring mal etwas Geld mit, ich will zahlen!“ rufe ich über die Theke. Der schaut mich wieder einmal so mitleidig und wissend an, schon fast ekelhaft. Aber es ist halt meine Stammkneipe und wir kennen uns nahezu 15 Jahre. Was muss ich auch immer meine Leidensgeschichte zum Besten geben. Na gut, manchmal war es ja recht hilfreich, wenn er mir in all dem Elend dann geraten hat, solange ich den Weg noch allein nach Hause finde, doch zu gehen.

Er nimmt meinen Deckel und rechnet kurz die Striche darauf in Euros um. „Macht achtundzwanzig zwanzig!“ und legt ihn vor mich auf die Theke.

„Mach dreißig!“ sage ich in einem Anflug von Großzügigkeit. „Mach Dir vom Rest einen schönen Abend, aber verprasse nicht wieder alles auf einmal!“ Er legt den Kopf schräg. Als ich auch dann noch ein „Haha!“ nachfolgen lasse, schaut er mich über den Rand seiner Lesebrille an, als würde er den Spruch noch nicht kennen. Aber kein Lächeln, kein Grinsen, nix. Na gut, Späßle gmacht! Er gibt mir auf meinen Fuffziger einen Zwanziger zurück. Ich verstaue den Schein in meinem Geldbeutel und rutsche vom Barhocker. Auf dem Weg zum Ausgang stecke ich ihn noch in meine Hosentasche und schnappe mir im Vorbeigehen meinen Mantel. Aufgrund der kalten Jahreszeit hängt vor der Tür ein dicker Vorhang, um den Wind abzuhalten, wenn die Raucher ihrer Sucht frönen wollen und nach draußen oder drinnen streben. Ich schlüpfe in den rechten Ärmel meines Mantels und will mit der Schulter den Vorhang beiseiteschieben, erwische ihn aber nicht richtig, da ich vermutlich schon einen Schritt zu nah an der Tür stehe. Da kommt der Stoff plötzlich auf mich zu und wirft mich mit einem Ruck nach rechts, Richtung Türblatt. Ich knalle gegen das Holz und der Vorhang teilt sich. Mir wird ganz komisch. Ich sehe mehr Sterne als der weihnachtlich geschmückte Stoff hergibt. Ich schlüpfe durch den Schlitz und die Tür nach draußen. Dort schüttele ich kurz mein Haupt und stolpere wie in Trance weiter. Die Sterne lichten sich. Durch den Stoß hat vermutlich mein Kopf in Verbindung mit dem Alkohol etwas gelitten. Egal, ich will nur noch nach Hause. Ich gucke nach links und sehe einen Radler mit seinem Handy vorm Gesicht, der freihändig auf einen Überweg zufährt. Na hoffentlich hält der vor der roten Ampel. Nein, bloß nicht wie in der blöden Werbung, wo er einfach durch den Querverkehr mitgenommen wird. Und ich sehe noch, dass er weiter fährt. Er hat das Vorderrad gerade auf die Straße gestellt, als ein Lkw von links kommend die Bremsen quietschen lässt. Ich schließe die Augen. Also wie damals bei der Führerschein Prüfung, als mein Fahrlehrer aufs Bremspedal stieg. Ein déjà vu? So zumindest sagen die Franzosen. Meine Mutter hat immer gesagt: Mir ist, als tät ich das kennen. Als ich die Augen öffne, ist nichts mehr von den beiden zu sehen. Ich schaue nach rechts. Eine junge Frau will ausparken. Na hoffentlich sichert sie beim Rückwärtsfahren. Kaum gedacht, schon nähert sich von hinten flott der Querverkehr. Ich schließe wiederum die Augen und höre quasi schon den Aufprall. Habe ich jetzt hellseherische Fähigkeiten oder sind es nur die Erfahrungen der letzten zehn Jahre als Führerscheinbesitzer. Als ich nichts höre, mache ich meine Augen wieder auf. Die beiden Autos sind weg. Einfach verschwunden. Mein Großhirn macht sich so seine Gedanken. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich habe zu viel oder zu wenig gesoffen. Die Entscheidung: Ich habe nicht genug und deshalb begebe mich zurück zur Kneipe. Einen Glühwein vielleicht noch. Ganz in der Nähe höre ich einen SanKa mit Sirene schnell näherkommen. Mit Mühe erreiche ich die Wirtshaustür und will durch den Vorhang in den Raum. Ich greife danach, denn der Vorhangstoff verhüllt mir den Blick. Da spüre ich, wie mir jemand auf die Wange tätschelt. „Herr Meier! Aufwachen! Herr Meier!“ Diese Worte dringen in mein Bewusstsein und ich versuche, den Vorhang beiseite zu schieben. Ich erkenne mit verschwommenen Blick eine weiß gewandete junge Frau und einen signalfarbenen Rettungssanitäter. „Da sind Sie ja wieder! Wie geht es Ihnen?“ Häh, haben die auf mich gewartet? Woher wussten die denn, dass ich wiederkomme. Und wie soll`s mir gehen? Beschissen! Aber, was soll das denn? Warum liege hier ich am Boden? Da merke ich erst, wie mein Schädel brummt. Das kann nicht vom Alkohol sein, das kommt erst am nächsten Tag, das weiß ich sicher aus jahrelanger Erfahrung. Meine Hand geht in Richtung Schmerzquelle. Ich berühre die Riesenbeule und zucke zusammen. „Was ist denn passiert?“ frage ich die neugierige Sanitäterin. Die Augen der Kneipenmitbenutzer starren mich an.

„Sie sind mit dem Kopf gegen die Tür geschleudert worden und haben das Bewusstsein verloren. Das war vor circa zehn Minuten.“ Bekomme ich als Auskunft.

„Dann ist draußen gar kein Unfall passiert?“ frage ich zur Bestätigung lieber noch mal nach.

„Nicht, dass ich wüsste.“ Bestätigt mir die Beauftragte für den Transport zur Wiederherstellung der Gesundheit.

Gottseidank! Also nur Wahnvorstellungen während der Bewusstlosigkeit. Nach kurzer Behandlung in aufrecht sitzender Position und einer aufbauende Spritze darf ich meinen Weg in Abstimmung mit der Notärztin nach Hause fortsetzen. Und soll ich was sagen, ich freue mich auf mein Mädel, auch wenn sie mir manchmal einige Nerven kostet. So ein Schlag auf den Hinterkopf erhöht also doch das Denkvermögen. Vielleicht ist der Baum ja schon geschmückt und ich kann nichts mehr falsch machen. Na dann, frohes Fest!