Bestrafte Neugier

Es war mal wieder soweit. Weihnachten stand vor der Tür. Um es reinzulassen, mussten natürlich alle Vorbereitungen abgeschlossen werden. Dazu gehörten auch das Schmücken des Christbaumes und das heimliche Niederlegen der Geschenke darunter. Lena war mit ihren sechs Jahren nun schon in einem Alter, dass der Glaube ans Christkind langsam nachließ. Aber sie machte noch alles brav mit, um die Eltern in ihrem Glauben zu belassen. Um nun sicher zu gehen, was wirklich so vor sich geht, schlich sich die kleine Lena unbemerkt während der Vorbereitungen in die gute Stube. Der dicke, bodenlange Vorhang bot ein hervorragendes Versteck. Sie kroch gerade noch rechtzeitig dahinter, als auch schon die Mutter das Zimmer betrat. Mucksmäuschenstill stand sie dort, während die gute Fee in Gestalt von Mami den Baum wunderschön schmückte. Ganz vorsichtig schob Lena den Saum ab und zu zur Seite und lugte vor. Mutter dachte: „Es ist doch kein Fenster offen, dass sich der Vorhang bewegen kann.“ Sie war schon auf dem Weg zur Balkontür, um nachsehen, da erblickte sie zwei kleine bekannte Hausschuhe, die unten am Vorhang hervorspitzten. Sie stoppte, drehte sich mit einem Lächeln um und wandte sich wieder dem Schmücken des Tannenbaumes zu. Als sie damit fertig war, betrachtete sie ihr Werk und war sichtlich zufrieden. Nun machte sie sich auf in die Küche, um das Abendessen  vorzubereiten. Lena ergriff die Gelegenheit, um aus dem Zimmer zu huschen. Nun war es gewiss. Es waren nicht die Engel, die dem Christkind halfen, so einen schönen Baum zu kreieren. Ludwig, ihrem vier jährigen Bruder wird sie aber nichts verraten, der soll irgendwann von selbst drauf kommen. Große Geschwister brauchen immer einen Wissensvorsprung! Sie schlich leise die Treppe hoch in ihr Zimmer, um die Zeit bis zur Bescherung zu überbrücken. Ludwig schlief garantiert noch eine Stunde.

Es war soweit. Mutter rief zum Abendessen. Schnell räumte Lena ihre Spielsachen noch weg, damit die neuen von heute Abend Platz hatten; denn sie hatte sich was Großes gewünscht. Und bisher hatte das Christkind immer fast alle Wünsche erfüllt. So saß nun die ganze Familie beim Abendessen. Heilig Abend gab es traditionell keine großen Umstände, da die Anspannung und die Vorfreude keinen großen Hunger und langes Essen zuließen. Die Würstchen und der Kartoffelsalat waren ruckzuck vertilgt und Papa musste, wie jedes Jahr noch zur Toilette. Vor lauter Aufregung, wie er immer sagte. Kaum verklang das Geräusch der Spülung, ertönte auch schon das Glöckchen zum Zeichen, dass das Christkind dagewesen war. Alle sprangen auf und sammelten sich vor der Wohnzimmertür, auch das war Tradition, damit das Christkind nicht verscheucht wird. Man wartete wie jedes Jahr auf Papa, der auch schon aus der Toilette kam und seine Frau anlächelte. Auch das war Tradition. Mama legte das Ohr an die Tür: „Ich glaube, wir können es wagen. Ich kann nichts mehr hören. Das Christkind wird fertig sein.“ Dabei sah sie Lena mit einem seltsamen Blick an, den diese nicht deuten konnte. Behutsam öffnete sie die Tür. Ludwig drängte sich an Lena vorbei, auch wie immer. Sie hatte Geduld gelernt, sie war ja die Große mit dem Wissensvorsprung und sie wusste ja, was sie erwartete.

So, nun waren alle drinnen. Der geschmückte Baum wurde ausgiebig bewundert, wie er so da stand und leuchtete und funkelte. Viele bunte Kugeln zierten seine Äste und an manchen waren elektrische Kerzen angebracht. Und dann glitt der Blick tiefer zu den Geschenken. Damit kein unübersehbares Durcheinander entstand, hatte es sich eingebürgert, dass Mama die einzelnen Päckchen verteilte. Der Kleine immer zuerst, damit man das Gequengel umging. Dann kam Papa dran. Häh, wieso das denn? Wo blieb denn da die Tradition? Sie war doch immer die Nächste. Da stimmte doch was nicht. Fragend sah sie ihre Mutter an. Die merkte aber gar nicht auf sie, sondern ließ sich erst von Papa umarmen, weil ihm seine Socken und die bunte Mischung von Unterhosen so richtig Freude machten. Dann fand Papa, rein zufällig, auch ein Geschenk für Mama unter dem Baum und überreichte es. „Ach, sind die Ohrringe aber schön!“ Freudestrahlend nahm sie nach dem Öffnen der Schachtel ihren Mann in den Arm. „Die schauen ja genauso aus, wie die, die ich mir gewünscht hatte.“

Nur Lena stand da, mit nichts in der Hand. Dabei hatte sie sich in den letzten Wochen vor Weihnachten doch nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Ihr Zimmer war meistens aufgeräumter als sonst das Jahr über. Man wollte es sich ja mit dem Christkind nicht verscherzen. Aber nu? Wo sind ihre Geschenke? Wie kann sie das Christkind vergessen, wenn es es gar nicht gibt? Mit Schreck dachte sie an ihren Beobachtungsposten während des Christbaumschmückens. Mist, ist vielleicht doch was dran an dem ganzen Humbug? Dann hatte sie geloost. Deshalb fragte sie scheinheilig: „Mami, warum bekomme ich nichts? Ich war doch auch brav!“

„Die Zeit fürs Bravsein gilt bis zur Bescherung.“ Gab Mama zu bedenken. „War da vielleicht noch was Ungewöhnliches?“

Lena brauchte nicht allzu lang nachzudenken. Verstohlen sah sie zum Vorhang hin. Sie winkte ihrer Mutter, dass sie sich zu ihr bücken sollte. Kleinlaut flüsterte ihr Lena ins Ohr: „Ich hab´ mich vorhin hier versteckt, als Du den Baum geschmückt hast. Das war nicht in Ordnung. Das mach ich auch nie wieder, versprochen!“ Sie legte ihre Hände hinter dem Rücken ineinander, trat von einem Bein aufs andere und senkte verlegen den Blick.

„Meinst Du das ernst?“ Streng schaute sie die Mutter an. Ganz eifrig nickte die Große. „Na, dann schau mal in Deinem Versteck nach. Vielleicht hat das Christkind ja dort etwas für Dich versteckt.“

Ungläubig sah Lena ihre Mutter an. Mit zwei Sätzen war sie am Vorhang. Ganz vorsichtig schob sie ihn beiseite, um im letzten Augenblick ja nichts mehr falsch zu machen. Ein Strahlen ging über ihr Gesicht. Und da stand es, das Geschenk. Groß und schön verpackt. Ihre Freude war riesig. Dankbar sah sie ihre Mami an. Dass Mütter immer alles zu wissen scheinen.

So, das mit dem Schmücken hatte sie jetzt herausgefunden, wer dem Christkind immer so eifrig geholfen hat. Und das mit dem Glauben an die Beschaffung der Geschenke wird sie aus Eigennutz kurzfristig aufs nächste Jahr verschieben.