Meister aller Kassen

Für Ede ist kein Schloss zu schwer, um es zu knacken. Er behauptet immer, er sei der Meister aller Kassen. So kommt er leicht in Häuser, öffnet Safes und vor allem Vereinskassen, die unvorsichtigerweise im Vereinshäusern in Holzschubladen oder sonstigen Möbeln versteckt werden. Um solche Kassen ausfindig zu machen, muss man vorher natürlich recherchieren. Vor zwei Tagen las er vom Fußballverein der 15 km entfernten Gemeinde, die am kommenden Wochenende ein Turnier angesetzt hatte. Das wird ein voller Erfolg! Da gibt es sicher eine volle Kasse am Abend, er musste nur schnell genug sein, bevor der Kassierer das gute Stück entleert und das Geld zur Bank bringt. Aber wie er die Jungs an der Kasse bisher so kennengelernt hat, sind die zu faul oder zu besoffen, sodass sie die Scheine erst am nächsten Tag abgeben.

So macht er sich mit seinem Moped auf zur Auskundschaftung des Umfeldes. Mit dem Auto konnte er leider nicht mehr fahren, da man seinen Pkw-Führerschein gezwickt hatte. Sein Alkoholpegel war bei der letzten Kontrolle durch die Polizei etwas zu hoch.

Am Ort des Geschehens angekommen, stellt er seinen fahrbaren Untersatz erst einmal in der Nähe des Eingangs ab, um im Bedarfsfall schnell abhauen zu können. Vorschriftsmäßig abgeschlossen verlässt er das Moped und geht in Richtung Eingang zum Sportgelände. Dort muss er erst einmal 4 Euro Eintritt bezahlen. Grinsend nimmt er diese Investition gern in Kauf, da er vermutlich das Zig-fache wieder reinholt. Es sind schon etliche Leute vor Ort, da die Vorrunde bereits in vollem Gange ist. Zufrieden schleicht er übers Gelände, besucht verschiedene Stände für Getränke und Speisen, gönnt sich dabei auch eine Bratwurst und eine Cola und guckt dabei ganz unbeteiligt in die bereits gut gefüllten Kassen. Eine gewisse Vorfreude kommt in ihm auf. Leider fällt ihm beim vorletzten Biss in die Semmel ein Tropfen Senf auf seine fast neuen weißen Cowboystiefel in Schlangenlederoptik, auf die er so stolz ist. Sofort bückt er sich leise fluchend und säubert die frisch geputzten Schuhe mit der Serviette, damit sie wieder wie geleckt aussehen.

So vergeht der Tag, die Spieler absolvieren ihre Wettkämpfe, die Betreuer sorgen für stärkenden Nachschub und die Zuschauer für ihr leibliches Wohl. Die Siegerehrung ist gerade in vollem Gang, als die meisten Kassen bereits auf dem Weg ins Büro im Vereinsheim sind. Dort werden sie schnell abgestellt, denn keiner will sich das Zeremoniell entgehen lassen. Die letzte Kasse ist im Zimmer, die Tür wird vom Verantwortlichen des Standes nur ins Schloss geworfen und weg ist er.

Ede sichert kurz ringsum, so wie immer, fühlt sich sicher. Keiner merkt auf ihn. Er holt einen Dietrich aus seinem Besteck, zwei Sekunden später ist die Tür offen und er huscht hinein und zieht die Tür hinter sich wieder zu. Da stehen sie, die lieben gefüllten Kassen und warten nur auf seine Behandlung. Netterweise haben die Kassierer die Schlüssel gleich an den ausgegebenen Geldkassetten stecken lassen, damit sie nicht verloren gehen. Drei der Kassen hat er bereits geöffnet und die Scheine entnommen. Das Kleingeld interessiert ihn nicht. Er klappt die Deckel wieder zu, damit es nicht gleich auffällt, dass die Kassen entleert wurden. Eigentlich hat er ja genug, um die nächsten Wochen über die Runden zu kommen, aber die Leichtigkeit der Entnahme steigern seine Gier.

Da hört er plötzlich draußen Schritte, die sich der Tür nähern. Ein Schlüssel wird ins Schloss gesteckt. Mit drei schnellen Schritten ist er hinter der Tür, als diese bereits geöffnet wird. Die Frau will gerade die mitgebrachte Kasse auf dem Tisch abstellen, als die bemerkt, dass die Ordnung der bereits abgestellten Geldbehälter durcheinander gebracht worden ist. Sie stutzt, dreht sich um und sieht gerade noch, wie jemand aus der Tür verschwindet und diese hinter sich zuzieht. Ede dreht noch den im Schloss steckenden Schlüssel um und entfernt sich flotten Schrittes. Dann hört er bereits, wie die Frau um Hilfe schreit und mit den Fäusten gegen die verschlossene Tür hämmert. Ungesehen steht Ede draußen wieder unter den anderen Gästen, die johlend die Siegerehrung verfolgen und so die Schreie aus dem Büro nicht mitbekommen. Seelenruhig marschiert er in Richtung Ausgang. Er hat das Tor bereits erreicht, als der Tumult, der die Ehrung begleitet, schlagartig aufhört. Über das Mikrofon wird bekanntgegeben, dass einige Kassen entleert wurden und der Täter noch auf dem Gelände sein müsste.

Nun aber, nix wie weg, denkt sich Ede und beschleunigt seine Schritte, ohne aber hektisch wirken zu wollen. Als er bereits sein Moped erreicht und aufgesperrt hat, hört er die Frau mit der Kasse rufen: „Da, da, am Eingang auf dem Mofa, das isser!“

Ede schmeißt sich auf den Sattel, startet den Motor und gibt Gas. Er ist fast in voller Fahrt, als ihn etwas am Kopf trifft und ihn vom Moped holt. Er ist vom Sturz noch ganz benommen, als er von kräftigen Händen gepackt und hochgezerrt wird.

„Guter Schuss, Waldi!“, sagt der Mann neben ihm zufrieden, „Nicht umsonst bist du der beste Torschütze des Turniers geworden.“ Er hebt den Ball auf und gibt ihn an den Kunstschützen zurück. Sie schleppen ihn ins Vereinshaus. Ede ist gar nicht wohl zumute, als er durch das Spalier der anwesenden Spieler und Gäste geführt wird. Im Vereinshaus angekommen, wird er erst einmal auf einen Stuhl gezwungen. Seine weite Mopedjacke wird ihm ausgezogen und auf dem Tisch vor ihm abgelegt. Zwei Hände halten ihn auf dem Stuhl fest. „Ey, was soll denn das? Was habe ich denn gemacht?“ begehrt Ede auf. 

Die beiden Männer durchsuchen gerade seine Jacke und legen die Scheine auf den Tisch. „Und was ist das? Du hast die Kassen geleert, die Drecksack!“

„Nein,“ beteuert Ede, „das ist das Geld, das ich mir heute von der Bank geholt habe, um mir ein neues Motorrad zu kaufen. Wie kommt ihr überhaupt drauf, dass ich eure Kassen geleert haben soll? Ich war doch gar nicht hier drinnen, oder kann das jemand bezeugen?“ Ede ist sich sicher, dass die Frau ihn nicht erkannt haben kann.

Doch da kommt die Frau, die er eingesperrt hat, seelenruhig auf ihn zu und deutet auf seine Schuhe. „Wenn man zum Klauen fährt, sollte man keine auffälligen Schuhe, wie diese weißen Cowboystiefel tragen. Die habe ich nämlich gerade noch gesehen, als du die Tür hinter dir zugezogen hast, sonst hätte ich dich vermutlich nicht identifizieren gekonnt.“